Aber die Saugverwirrung!
Stillende, die im Laufe der ersten Lebensmonate ihres Kindes arbeiten, sehen sich mit einer Vielzahl an Aufgaben konfrontiert. Eine Pumpe organisieren, die Anwendung des Mutterschutzgesetzes mit den Verantwortlichen im Unternehmen besprechen – oder als Selbstständige selbst herausfinden, welche Schritte zu erledigen sind. Nicht zu vergessen: Die Betreuung organisieren!
Im privaten Umfeld tauchen häufig Bedenken dieser Art auf:
- Wie lange wirst du dann weg sein von deinem Baby?
- Was machst du, wenn der Papa/die Oma/die Betreuungskraft dein Baby nicht beruhigen kann?
- Was, du willst die Milch extra abpumpen?
Im stillsensiblen Umfeld kommt noch eins obendrauf: die Angst vor der Saugverwirrung. Die Berichte häufen sich, vor allem in Foren und in den Gruppen der sozialen Netzwerke, wie eine einzelne Flasche der Anfang vom Ende jeder Stillbeziehung war.
Wir widmen uns in diesem Beitrag allgemein der Frage, welche Fütterungsmöglichkeiten uns als erwerbstätigen Stillenden zur Verfügung stehen, welche Lösungen “stillfreundlich” sind und wie wir damit umgehen, wenn es Probleme gibt.
Begriffsdefinitionen
Worte sind mächtig. Falsche oder ungenaue Begriffe können Diskussionen ausufern lassen, obwohl alle Beteiligten dasselbe meinen. Deshalb: Wir definieren zunächst die Begriffe, die typischerweise rund um die Saugverwirrung im Kontext erwerbstätiger Stillender auftauchen.
Zufüttern vs. Füttern
Auch wenn es auf dem ersten Blick so wirkt, sind hier zwei unterschiedliche Dinge gemeint.
Zufüttern | Füttern |
---|---|
Ergänzung zur eigentlichen Stillmahlzeit | vollständige Mahlzeit |
definierte, begrenzte Menge, um Kalorienbedarf des Babys kurzfristig zu decken, bis weitere Stillmanagement-Maßnahmen greifen | entspricht der Menge, die gestillt werden würde, um die temporäre Abwesenheit der Stillenden durch Bezugspersonen zu überbrücken |
kurzfristige Kalorienversorgung steht im Vordergrund, die Zufüttermethode wird durch die weiteren Indikationen (Saugschwäche, Müdigkeit, Nachwirkungen Geburt, Gelbsucht etc.) mitbestimmt | praktische Umsetzbarkeit für längere Zeitintervalle (mehrere Stunden) und größere Füttermengen stehen im Vordergrund |
zugefüttert wird Muttermilch und/oder Muttermilchersatznahrung | gefüttert wird abgepumpte/ausgestrichene Muttermilch, Muttermilchersatznahrung, Beikost |
Ausschließliches Stillen wird beim ABM definiert als das Füttern von Muttermilch (an der Brust/ausgestrichen/abgepumpt); zufüttern meint die ergänzende Ernährung mit Muttermilchersatznahrung und/oder Beikost.
Im Klartext: Pumpende erwerbstätige Stillende, die keine Formula in ihrer Abwesenheit füttern lassen, stillen im Sinne der ABM voll, bis geeignete Beikost eingeführt wird. Punkt. Der Begriff “zufüttern” wäre an dieser Stelle also unangebracht.
Flasche, Becher oder anderes: Welche Methode funktioniert?
Muss die Betreuungsperson mehrere Stunden überbrücken, werden teils größere Mengen pro Mahlzeit gefüttert. Praktisch muss es dann sein, leicht zu handeln und beliebig oft wiederholbar. Das gilt für fütternde Väter, Großeltern, Erzieherinnen in Tagespflegeeinrichtungen und Tageseltern.
Für die Auswahl der Füttermethode ist deshalb im ersten Sinne wichtig:
- Ist es einfach?
- Ist es praktisch im Alltag mit Baby?
- Ist es hygienisch?
- Lässt es sich auch wochen- und monatelang einsetzen?
- Verursacht die Füttermethode Stress beim Säugling (und/oder bei der Betreuungsperson)?
- Wie viel kann binnen ~ 20 bis 30 Minuten Fütterungszeit gefüttert werden?
- Lässt sich das Füttern mit der Methode einfach vermitteln und anwenden?
- Wird das Saugbedürfnis insbesondere von Säuglingen im ersten Jahr gestillt?
Für med. Fachpersonal stellt die ABM konkrete Kriterien vor, die beachtet werden sollten.
BES (Brusternährungsset)
Das BES eignet sich perfekt zum Füttern eines Babys direkt an der Brust. Alternativ könnte der Säugling auch direkt an der Brust einer Stillenden, die nicht die biologische Mutter ist, angelegt werden. Diese Form des Ammenstillens ist in Deutschland, Österreich und der Schweiz nicht mehr verbreitet. Grundsätzlich ist es, wenn ausreichend auf Hygiene geachtet wird, für alle Beteiligten möglich. Die Frage ist nur: Wo findet sich eine (laktierende) Erzieherin oder Tagesmutter, die den betreuten Säugling selbst stillt?
Bechern/cup feeding
Bechern funktioniert wie im Video dargestellt:
Dabei schleckt der Säugling die Milch aus dem geneigten Becher auf, ähnlich wie ein Kätzchen. Mit etwas Übung können durchaus größere Mengen verfüttert werden. Aber: Das Handling muss zwingend geübt werden und die Betreuungsperson benötigt entsprechend ausreichend Zeit zum Füttern. Im privaten Umfeld dürfte das gut gelingen, in Kindertagesstätten gestaltet es sich eher schwierig.
Wichtig ist hier auch: Das Saugbedürfnis wird nicht befriedigt. Müssen bei Dienstreisen oder langen Arbeitstagen viele Stunden überbrückt werden, sollte über den Einsatz einer Saughilfe (Schnuller, Finger) zumindest nachgedacht werden.
Löffel/Pipette/Spritze
Mit dem Löffel werden kleine Mengen gefüttert, die der Säugling ähnlich wie beim Bechern aufschleckt. Der Inhalt des Löffels darf nicht einfach in den Babymund geschoben werden, um ein Verschlucken zu verhindern!
Spritzen, Pipetten, Fingerfeeder und der Habermann-Sauger dienen vor allem dem Saugtraining von saugschwachen oder physisch anderweitig eingeschränkten Babys. Diese Methoden sind nicht darauf ausgelegt, dauerhaft bei gesunden Säuglingen für das Füttern vollständiger Mahlzeiten eingesetzt zu werden.
Bitte verwende diese Stillhilfsmittel nur mit medizinischer Indikation und unter Anleitung von entsprechend ausgebildetem medizinischem Fachpersonal!
Flasche
Was die Praxistauglichkeit angeht, ist die Flasche für erwerbstätige Stillende oft die beste Lösung. Das Handling ist vergleichsweise schnell erlernbar, die Handhabung auch für größere Füttermengen (gemeint sind ~60ml bis um die 120ml/Mahlzeit) geeignet – und das auch für wochen- und monatelanges Füttern.
Bei den Saugern sollte auf Folgendes geachtet werden:
- weiche, flexible Sauger
- möglichst kleine Saugöffnung (Teesauger oder nächstgrößere, einlochige Formula-Öffnung)
- Brustwarzenähnliche Form (Kirschform, keine speziell geformten, abgeflachten Saugerarten)
- breite Basis, damit die Lippen des Babys nach aussen gestülpt bleiben wie an der Brust
Paced Bottle Feeding ist ein bedürfnisorientierter, sanfter Weg zum Füttern mit der Flasche. Wie genau das funktioniert, ist in diesem Video (englisch) dargestellt:
ab Beikostalter: Trinklernbecher
Spätestens ab Beikostalter, beziehungsweise wenn der Säugling auch ergänzendes Wasser zur Beikost erhält, können Trinklernbecher oder ganz simpel dickwandige Gläser/Becher verwendet werden. Die Muttermilch kann, muss aber nicht extra erwärmt werden. Es hängt vom Säugling selbst ab, ob zimmerwarme Muttermilch angenommen wird.
Trinklernhilfen mit Strohhalmen führen gelegentlich zu Schwierigkeiten an der Brust. Konsequentes umstellen auf Becher/Cups ohne Strohhalmfunktion genügt in aller Regel, um die Saugschwierigkeiten zu beheben.
Weniger ist hier mehr: Beikostreife Babys sind oft sehr interessiert daran, Gläser und Tassen “wie alle Erwachsenen” in die Hände zu bekommen. Deshalb braucht es nicht zwingend spezielle Trinklernbecher oder Aufsätze. Dickwandige, stabile Becher genügen durchaus. Profi-Tipp: wenn nur wenig Flüssigkeit auf einmal im Becher ist, klappt es erfahrungsgemäß besser.
Ja aber die Saugverwirrung!
Auch wenn die Flasche praktikabel scheint, haben Stillende trotzdem einen gesunden Respekt – und teilweise wirklich Angst – vor einer möglichen “Saugverwirrung”.
Die Studienlage zur “Saugverwirrung” (Saugmusterpräferenz) ist bisher nicht eindeutig; sie lässt sich weder hinreichend belegen noch eindeutig definieren.
Als “Saugverwirrung” bezeichnet wird es häufig dann, wenn
- Säuglinge ein sehr unruhiges Verhalten an der Brust zeigen, häufig an- und abdocken und die Brust “zu verlieren” scheinen
- kein oder ein nur unzureichendes Vakuum an der Brust bilden können
- Säuglinge nur unzureichend zunehmen (und zusätzlich per Flasche gefüttert werden oder einen Schnuller bekommen)
- Säuglinge die Flaschenfütterung bevorzugen
- Säuglinge größere Mengen aus der Flasche, aber nicht an der Brust trinken
- …..
Alle Symptome lassen sich auch anderen Problemfeldern zuweisen. Was genau an welcher Stelle dafür sorgt, dass Stillende und Säugling ihre Schwierigkeiten miteinander haben, ist sehr unterschiedlich. Im besten Falle wird eine Stillfachkraft dazugeholt, um die Situation zu besprechen.
Der Verzicht auf sämtliche künstliche Sauger und das (Zu-)Füttern mittels Becher oder Löffel für sehr junge Säuglinge ist eine gängige Empfehlung. Für erwerbstätige Stillende stellt sich aber die Frage: Ist das praktikabel? Wie lassen sich Stillen und Arbeiten so vereinbaren, dass das Baby praktisch und sicher gefüttert werden kann?
Was denn nun: Ist die Flasche stillfreundlich oder nicht?
Im ABM Clinical Protocol (englisch | deutsch) werden verschiedene Zufüttermethoden ohne den Zusatz “stillfreundlich” oder “stillfeindlich” benannt, wir haben sie oben kurz beschrieben.
„When supplementary feedings are needed there are many methods from which to choose: a supplemental nursing device at the breast, cup feeding, spoon or dropper feeding, finger-feeding, syringe feeding, or bottle feeding.“
https://abm.memberclicks.net/assets/DOCUMENTS/PROTOCOLS/3-supplementation-protocol-english.pdf
Auch die Nationale Stillkommission (Link) hat in der letzten Überarbeitung seines Fachblatts zu Füttermethoden von Säuglingen das “stillfreundlich” entfernt und die Flasche als geeignete Methode mit aufgenommen.
Insbesondere ABM stellt klar:
„Bottle feeding is the most commonly used method of supplementation in more affluent regions of the world, but is of concern because of distinct differences in tongue and jaw movements, differences in flow, and longterm developmental concerns.(49) Some experts have recommended a nipple with a wide base and slow flow to try to mimic breastfeeding, but no research has been done evaluating outcomes with different nipples.”
https://abm.memberclicks.net/assets/DOCUMENTS/PROTOCOLS/3-supplementation-protocol-english.pdf
Keine (Zu-)Füttermethode ist risikolos, sondern muss individuell abhängig vom Bedarf, der jeweiligen Betreuungssituation, dem Säugling selbst und seinen individuellen Bedürfnissen entsprechend ausgewählt werden.
“An optimal supplemental feeding device has not yet been identified, and may vary from one infant to another. No method is without potential risk or benefit.”
https://abm.memberclicks.net/assets/DOCUMENTS/PROTOCOLS/3-supplementation-protocol-english.pdf
Im Klartext: Die Flasche kann so gut oder schlecht wie jedes andere Mittel geeignet sein, um deinen Säugling zu füttern.
Die Wahrscheinlichkeit einer “Saugverwirrung” ist eher gering. Die Wahrscheinlichkeit, dass verschiedene Ursachen fälschlicherweise unter dem Begriff “Saugverwirrung” zusammengefasst werden, ist dagegen relativ hoch.
Hier ist noch mehr Forschung nötig, um Saugpräferenzen und Saugmuster von Säuglingen – und von gestillten Kleinkindern – besser zu verstehen. Das sieht ABM übrigens auch so:
„Research is necessary to establish evidence-based guide-lines on appropriate supplementation volumes for specific conditions and whether this varies for colostrum versus infant formula.Specific questions include the following:
1. Should the volume be independent of infant weight ora per kilogram volume? Should supplementation makeup for cumulative losses?
2. Should feeding intervals or quantities be different for different types of delivery of supplementation (e.g.,bottles, cup feeding)?
3. Are some methods (type and delivery mechanism) best for infants with certain conditions, ages, and available resources? Which methods interfere least with establishing direct breastfeeding?”
https://abm.memberclicks.net/assets/DOCUMENTS/PROTOCOLS/3-supplementation-protocol-english.pdf
Beispiele & typische Fragen zum Thema
Beispiel für die kritische Einteilung in “stillfreundlich” und “still-unfreundlich”:
Ein 10 Wochen alter Säugling soll von der Oma gefüttert werden, während die Stillende für täglich 5 bis 8 Stunden arbeitet. Die Zeiten variieren etwas, je nach Arbeitsaufkommen und Verkehrslage ist die Stillende mal früher, mal später zurück bei Baby & Oma.
Die Stillende bevorzugt die Fütterung mit dem Becher. Die betreuende Großmutter hat früher ihrer Tochter selbst die Flasche gegeben. Jetzt allerdings hat sie Schwierigkeiten damit, gleichzeitig das hungrige Baby und den Becher zu halten. Die richtige Technik will ihr nicht gelingen, auch wenn sie dem Wunsch ihres Kindes nach der passenden Füttermethode sehr gerne nachkommen will. Oma, Mutter und Kind sind zunehmend frustriert. Das Baby nimmt nicht ausreichend zu, die Oma fühlt sich hilflos und zunehmend auch unfähig, sich ausreichend ums Enkelkind zu kümmern. Bei der Mutter wächst das schlechte Gewissen, die Situation bedrückt sie sehr. Sie zweifelt am Stillen, an der Arbeit und an ihrer Mutterrolle.
Ist es stillfreundlich, aufs Bechern zu bestehen, wenn es für alle drei in der Form nicht passt? Wäre die Flasche in so einer konkreten Situation unter Umständen stillfreundlichER, um der Oma Sicherheit im Handling zu bieten? Wäre es stillfreundlichER dem Baby sowohl eine ausreichende Muttermilchmenge als auch den Sauger für die Beruhigung zu bieten? Wäre es stillfreundlichER, die Stillende zu beruhigen?
Wir haben mit der Flasche gefüttert und nun Schwierigkeiten – was sollen wir tun?
Atmen, Ruhe bewahren, deine Stillberaterin anrufen und genau schauen, was individuell bei euch passiert. Besprecht in aller Ruhe alle wichtigen Punkte mit der Stillfachkraft, insbesondere:
- Wer füttert wann, wo und wie den Säugling?
- Gab es kürzlich Infekte, Erkrankungen oder andere Besonderheiten?
Schnelle Hilfe erhältst du wahlweise bei der AFS-Hotline, der Mail-Beratung der LaLecheLiga oder direkt in unserer Stillen-und-Arbeiten-Gruppe auf Facebook.
Müssen wir uns für immer auf eine Füttermethode festlegen?
Nein. Wie oben festgestellt, ist die Auswahl der richtigen Füttermethode ganz individuell. Grundsätzlich können das aber die Stillende, der Säugling und nicht zuletzt die Betreuungsperson/die Betreuungseinrichtung jederzeit neu besprechen und auch neu gestalten.
Im Klartext: Wenn es in den ersten Monaten direkt nach der Geburt mit Becher und Löffel gut klappt, kann das zum Füttern genutzt werden. Wird der Säugling ab Krabbelalter unruhiger und zeigt ein verstärktes Interesse an allem anderen, kann die Flasche vielleicht die bessere Lösung sein, um die Milchmahlzeit anzubieten. Manche Säuglinge überbrücken die Zeit auch intuitiv ausschließlich mit Wasser und Beikost, bis sie wieder direkt stillen können.
Fazit
Wirklich stillfreundlich ist allein das Stillen direkt an der Brust. So richtig praktikabel ist das für die große Mehrheit der erwerbstätigen Stillenden aber nunmal nicht! Nur wenige haben die Möglichkeit, sich das Stillkind in die Arbeit bringen zu lassen beziehungsweise zum Stillen nach Hause/in die Kindertagesstätte zu fahren.
Was bleibt also? Besonnen und in Ruhe gemeinsam mit den Betreuungspersonen besprechen, welche Füttermethoden in Frage kommen. Und dann ganz praktisch im Alltag testen, was davon funktioniert. Sich des Risikos einer möglichen “Saugverwirrung” bewusst zu sein, das bedeutet nicht, die Flasche komplett abzulehnen. Es bedeutet nur, Risiken und Chancen abzuwägen.
Stillberaterin seit 2010, Mutter von 2 Kindern; Selbstständig. Hat insgesamt 5 Jahre stillend gearbeitet.
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